Sayyida Salme, aus den 'Briefen nach der Heimat' zitiert: |
Als wir von unserem Hotel zur Eisenbahnstation fuhren, ergriff mich eine mir sonst so fremde Angst, dass ich am liebsten laut hätte schreien mögen. Es wollte mir scheinen, als ob von jetzt an die Heimat mir immer weiter entrückt würde und somit alle Brücken hinter mir zusammengestürzt wären. ... Ich rang mit mir selbst einen furchtbaren Kampf. Mechanisch stieg ich in die Eisenbahn, die mich nun zu einem unbekannten Land, zu ganz wildfremden Menschen so rasch wie möglich hinzuführen strebte, als ob ich auch die größte Eile dazu hätte, so schnell wie möglich meine Destination erreichen zu wollen - und so fuhren wir dem Norden immer weiter entgegen. |
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Bisher sah ich nirgends so viele hellfarbige und blonde Menschen wie gerade hier, und das fiel mir als sehr eigentümlich natürlich auf; desgleichen auch die großen Schritte und die Eile, die die Leute fast alle auf der Straße zu haben schienen. |
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Mit den Landessprachen, Sitten und Gebräuchen völlig fremd und unbekannt, befand ich mich in einer keineswegs beneidenswerten Lage, um so mehr, als wir, kaum in Hamburg angekommen, bei den Verwandten und Freunden meines Mannes Besuche machen müssen. |
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Alles, alles ist anders als bei uns: Häuser, Straßen, Kleidung, Essen, ja, selbst sogar die Luft und die Menschen: Ich hatte unendlich viel und auf einmal in mich aufzunehmen und zu verarbeiten. |
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Du wirst zu einer großen Gesellschaft gebeten, wo sämtliche Augen der Gäste auf Dich gerichtet sind und aus deren Blicken Du nichts anderes als Neugierde liest. Herren und Damen betrachten Dich von Kopf bis Fuß so lange, bis Du aus Anstand Deine erstaunten Augen willkürlich niederschlagen musst. |
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Im praktischen Norden geht alles systematisch zu, und der Sinn für Ordnung ist bewunderungswürdig. Man hat über alles eine genaue Rechenschaft abzulegen, und wehe dem, der so ohne weiteres in den Tag hinein lebt. |
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Dass die Europäer zu uns kommen, wo sie stets ihre Lebensweise beibehalten können, erschien mir ein Kinderspiel im Verhältnis zu meiner Situation. |
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Alles erschien mir anfänglich so ganz unüberwindlich schwer, zumal ich für so viele Dinge gar keinen Geschmack fand und dieselben habe doch nachahmen müssen. |
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'Und hier willst du dein Leben lang zubringen?' Leicht hätte ich mein Leben eher dazu geben können, bevor ich auch mit einem aufrichtigen 'Ja' diese grausame Frage hätte beantworten können. |
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Es kommt Dir gewiss lächerlich vor zu hören, dass ich, die als Kind zwischen Euch die wildeste, Furcht und Schrecken nicht Kennende war, hier zwischen dieser neuen Umgebung so ängstlicher wurde, wie Dir kaum begreiflich erscheinen kann. |
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Bald wurde ich auch still und einsilbig, und auf die besorgten Fragen meines Mannes, ob mir etwas fehle, schützte ich einfach stets Heimweh vor. |
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Da es in Deutschland noch zu jener Zeit so wenige exotische Menschen zu sehen gab - im Verhältnis zu England und Frankreich, so hatte ich in den ersten Jahren auch unglaublich viel darunter zu leiden. In Gesellschaften, in Theater und Konzerten fühlte ich mich beständig beobachtet, was mit im höchsten Grade lästig war. |
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Schließlich erlebte ich noch diese Genugtuung, dass eine sehr naive Dame es zuwege brachte, sich in meine angeblichen Negerhaare zu vertiefen und sich die sonderbare Freiheit nahm, diese sogar zu befühlen! |
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Denn ohnehin hatte man schon die tollsten Geschichten von der Araberin zu erzählen gewusst. Unter anderem, ich sei so dick wie ein Fass, obgleich ich zu jener Zeit eher einer Bohnenstange ähnlich sah. Ich hätte die Haare und Gesichtsfarbe einer Negerin. Meine Füße sollten so klein sein wie die Füße einer Chinesin, so dass ich infolge dessen natürlich auch nicht gehen konnte. |
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Ja, wenn in der Kritik, die gewiss nicht ausbleibt, nur Deine eigene Person in Betracht käme, das wäre noch nicht so schlimm: aber man wird vielleicht noch weiter gehen ob meiner Ungeschicklichkeit und gleich die Unbeholfenheit unserer Rasse dahinter suchen. |
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Das Sitzen nur auf Stühlen wurde mir am Anfang herzlich sauer, und ich beneidete Euch im Geist nicht wenig um Eure so bequemen Meddes und Tekies. Aber mit Korsett und Krinoline ausgestattet, wie ich nun war, würde das Sitzen auf einer Meddes sehr schwer fallen, da ich mich jetzt den ganzen lieben Tag wie in einem Schraubstock fühlte. |
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Die Umgebung von Hamburg ist allerliebst, namentlich die Gegend an der Elbe, wohin es mich stets zog. ... Namentlich für den Hafen hatte ich eine ganz besondere Vorliebe, da ich hier die Schiffe sah, die zu Euch gingen, und hin und wieder auch Neger, die als Matrosen hierher kommen. |
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War ich schon von Haus aus kein Freund des nordischen Winters und stets froh, wenn der Sommer wiederkam, so empfand ich diesen Winter noch unerträglicher als sonst. Die neblige trübe Witterung des Novembers und Dezembers lasteten derartig auf mir, wie ich mit Worten nicht beschreiben kann. |
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Wie oft, oh wie oft flogen meine Gedanken nach unserer lieben Insel hinüber, und ich beneidete Euch nicht wenig um den beständig heiteren Himmel und um Eure einfache Lebensweise, welche noch ganz frei ist von all den Komplikationen, die man hier als die Errungenschaften der Zivilisation und des gehetzten Menschengeistes bezeichnet. |
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Man muss in Europa geboren und erzogen sein, um den tausend Beschränkungen, welche so oft die persönliche Freiheit beeinträchtigen und den einzelnen Menschen einfach zu einer Nummer machen, sich unterwerfen zu können. Für uns Naturvölker passt ein solcher Zwang nicht, denn bei uns kommt meist das Herz zuerst und dann das kalte Kalkül. |
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Ganz unwillkürlich beschlich mich das Gefühl, als ob ich mich in einer streng organisierten Anstalt, aber nicht in einem großen Staat befände. Alles ist so schablonenmäßig geordnet und eingerichtet, dass das allergeringste Abweichen davon eine Strafe nach sich zieht. Alles, alles steht unter dem Gesetz, und die Paragraphen des letzten sind fast so zahlreich wie der Sand am Meer. |
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Was lag mir aber in diesem Augenblick an den Sitten und Gebräuchen Hamburgs! Nichts im geringsten. Denn meine Schmerzen waren zu intensiv, um mich noch mit den hohlen und überlegten Äusserlichkeiten befassen zu können. |
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Und nun begannen die so geistreichen Fragen: âSie sind wohl eine Fremde und keine Deutsche, nicht wahr? âSehe ich denn deutsch aus? war meine Gegenfrage, worauf der Juwelier einfach mit Nein antwortete. Ich war über das Benehmen des Herrn etwas erbost, und indem ich die Schnalle einziwockeln anfing, sagte ich ihm, âWenn Sie wussten, dass ich eine Fremde und keine Deutsche bin, weshalb fragen Sie mich denn? |
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Diese Art von Misstrauen gegen Nichtvollblutdeutsche habe ich auch später vielfach in Deutschland erfahren... Später klagte mir eine Ungarin in Dresden genau die gleiche Erfahrung, dasselbe auch eine Russin. Wie ganz anders ist es doch bei Euch, wo man jedem Europäer, solange derselbe keine gegenteilige Veranlassung gezeigt hat, vollstes Vertrauen entgegenbringt, gleichviel ob derselbe in seiner Heimat ein ehrenwerter Mensch oder ein Gauner war. Es ist doch unfreundlich, die Nichtdeutschen als zweifelhafte Menschen anzusehen, wo doch gar kein Grund vorliegt, gegen sie misstrauisch zu sein. |
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Denn ohnehin hatte ich schon überall in Deutschland die wunderlichsten Ideen über unsere Lebensart und Erziehung, die mich oft in Erstaunen versetzten, angetroffen. Offenbar hält man uns hier, milde gesagt, einfach für ein unkultiviertes Volk, dem jede Lebensart abgeht. |
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In meinem ganzen Leben fühlte ich mich niemals - weder vorher noch später - moralisch so elend und jeder Stütze beraubt als gerade nach meiner Taufe. |
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Ich verließ meine Heimat als vollkommene Araberin und als gute Mohammedanerin, und was bin ich heute? Eine schlechte Christin und etwas mehr als eine halbe Deutsche. |
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... wie sollte ich als Mohammedanerin mich zu dem neuen Glauben hingezogen fühlen, wenn die Menschen, welche selbst im Christentum geboren und erzogen sind, ihre Religion so geringschätzend behandeln? |
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Für ganz unbefangene Leute, das heisst für Leute, welche dem Christentum fernstehen und nur durch Bücher und Erzählungen die friedfertige und Nächstenliebe predigende Lehre Jesus kennengelernt haben, muss es gewiss gang unfasslich scheinen zu sehen, wie deren Bekenner sich gegenseitig zu überbieten suchen, wer von ihnen die tödlichste und das Leben en gros vernichtende Waffe erfinden kann. Dergleichen aber nennt man hier Fortschritt. |
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Um nun die einsamen Stunden, da ich im wahren Sinne des Wortes sprachlos war, etwas totzuschlagen, wurden meine arabischen Schmuckgegenstände und arabischen Kleidungsstücke sehr geplagt. Denn mit diesen konnte ich stumm meine Gedanken tauschen, ohne der Worte zu bedürfen. Waren sie nicht die einzigen Gegenstände, die mich an Euch und die geliebte Heimat erinnerten? |
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Ja, in der Fremde, die ich wahrlich so empfand. Oh mein Gott, ich hätte ja eben so gut auf den Mond oder ein anderes Gestirn verschlagen sein können, ohne an meiner Verlassenheit und Ratlosigkeit auch viel ändern zu können. |