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Belinda Grace Gardner

Das Fremde ist das Eigene

Reflexion hybrider Identität und Verortung zwischen den Welten:

Jokinens 'Sehnsuchtsformeln'

Heimat ist ein Ort, an dem keine Fragen gestellt werden, hat Joseph Brodsky einmal gesagt. Nach der Ausbürgerung aus der Sowjetunion 1972 fand der 1996 verstorbene Dichter, Essayist und Nobelpreisträger eine neue Heimat in New York. Die Winter verbrachte er in der Wasserstadt Venedig, der Stadt der flüchtigen Augenblicke und der mannigfaltigen Reflexionen. Seine Geburtsstadt Petersburg hat er nie wieder betreten. Als seine eigentliche Heimat aber empfand er die Sprache. "Es gibt nichts anderes", bemerkte er 1992 in einem Interview. In den Worten - den Russischen ebenso wie den Englischen - ging er ein und aus. Er trug sie mit sich, zehrte davon des Weges.

Dort, wo keine Fragen gestellt werden, kann man auf selbstverständliche Weise sein. Gibt es keine Verhöre oder Infragestellungen der eigenen Existenz. Ist man in einem profunden Sinne Zuhause. Fragen können aber auch heimatstiftend wirken. Wenn sie aus dem Wunsch heraus gestellt werden, mitzufühlen, sich auf die Welt des Anderen einzulassen, die eigene Sicht um das andere Sehen zu erweitern. Oder in diesem anderen Sehen das Eigene wiederzufinden.

Die Künstlerin Jokinen hat genau jene Art von Fragen gestellt. 1950 in Helsinki geboren, wuchs sie selbst in einem multikulturellen Haushalt auf. 1969 verließ Jokinen Finnland, um in der Schweiz zu studieren. Seit 1977 lebt die Künstlerin in Hamburg. Ihre multimedial ausgerichteten Arbeiten umfassen Performance, Fotografie, Film, Sprache, Rauminstallationen und interaktive Netzauftritte. Durchgängige Themen sind die Auseinandersetzung mit dem 'Fremden' und dem 'Eigenen', die Untersuchung von Identität und Methoden geistiger oder physischer Verankerung in der Welt. Dabei wird der individuelle ebenso wie der gesellschaftliche bis hin zum hybriden, technikgestützten Körper als Interface neuer Formen der Seinserfahrung präsent. Kürzlich erhielt Jokinen für ihr Partizipationsprojekt im öffentlichen Raum und im Internet, das Kolonialismus und Abschiebepolitik, Denkmal- und Erinnerungskultur beleuchtet, im Ideenwettbewerb für die künstlerische Gestaltung der Hafencity den 1. Preis der Hamburgischen Kulturstiftung.

Vor dem Hintergrund ihrer eigenen transnationalen Biografie beschäftigt sich die Künstlerin ferner mit den Begriffen 'Heimat', 'Gedächtnis' und 'Orientierung' auf unbekanntem Terrain. Ihre Installation "Home 1: Come to Finn Crisp" etwa, erstmalig 1999 in der Forefront Gallery im englischen Suffolk gezeigt, kreiste unter anderem um die Fragilität des Konstrukts 'Erinnerung'. Ein als Endlosschleife konzipiertes, raumumgreifendes rotes Teppichband war von einem zerbrechlichen Abschnitt aus "Finn Crisp"-Knäckebrotscheiben unterbrochen. Von einem Monitor erging die Aufforderung ans Publikum, auf dem roten Teppich näher zu treten, während zugleich das Verbot von der Künstlerin ausgesprochen wurde, Krümel zu erzeugen. Im Double-Bind-Paradox machte sie konditionierte Verhaltensweisen sichtbar und verwies mit dem industriell vervielfältigten Knäckebrot, das in ihrer finnischen Kindheit noch manuell hergestellt und bei den Großeltern zum Trocknen an der Decke hing, bereits auf eine das persönliche Erleben transzendierende Dimension: Diese wird in ihrem jüngsten Projekt "Sehnsuchtsformeln" zum Dreh- und Angelpunkt der Durchdringung von individuellem Schicksal und kollektiver Empathie.

Entstanden für das 4. interkulturelle Festival "eigenarten", besteht die Video-Raum-Objektinstallation aus drei ineinander greifenden Teilen. "Sehnsuchtsformeln": Schon der Begriff birgt einen subtilen Widerspruch. Denn 'Sehnsucht'', in jeder Sprache zwar anders benannt, aber als zwischen Glücksgefühl und Melancholie changierendem Empfinden allen Menschen auf der Welt vertraut, lässt sich nicht so ohne weiteres fassen. Der mathematische Begriff der 'Formel' hingegen stellt genau das Gegenteil in Aussicht: die präzise Festschreibung eines ephemeren Phänomens. Tatsächlich findet in Jokinens poetisch-dialektischer Arbeit beides statt: Die raum- und zeitübersteigende Weite der emotionalen Befindlichkeit 'Sehnsucht' erhält durch die plastischen Erzählungen konkreter Menschen, den Orten, die in Worten und Bildern beschworen werden, sowie den symbolhaften, sehnsuchtshaltigen Gegenständen, die sie flankieren, eine intensiv anrührende, nachvollziehbare Gestalt.

Die Künstlerin hat acht Menschen, die aus verschiedenen Ländern nach Deutschland gekommen, teils auch hier aufgewachsen sind, zu ihren Erinnerungen an die ursprüngliche Heimat befragt. Es ging um besondere Momente der Freude, des Bewegtseins, in denen sich die Sehnsucht nach dem anderen Ort kristallisiert. Sie bat die Protagonisten, die meisten davon selbst künstlerisch tätig, um einen Gegenstand, der für sie die 'andere' Heimat evoziert. Sie erkundigte sich nach den Orten in Hamburg, an denen sich die Befragten besonders wohl oder 'zuhause' fühlen. Auf einer raumfüllenden Leinwand kommen sie zu Wort: Cathérine Andrzejewski, Komponistin, Musikerin, Sängerin, die als Kind jeden Sommer im polnischen Dorf der Großeltern verbrachte. Der Schauspieler und Moderator Yared Dibaba aus Oromia, der seine Heimat in Ethiopien als Flüchtling verlassen musste. Der aus dem Iran stammende Soziologe und bildende Künstler Keyvan Taheri, dessen Sehnsucht es ist, nicht mehr als Ausländer angesehen zu werden. Dora-Otima Quainoo, Sozialarbeiterin aus Ghana, deren größtes Glück die Geburt ihrer Söhne im Hamburger Krankenhaus Alten Eichen war. Und die anderen, die ihre Geschichten von Sehnsucht und Heimat erzählen.

Im Film (Kamera: Michael Schmiedel) werden die Gerüche, Farben, Anblicke, Atmosphären der fernen Orte durch die Erinnerungen der Sprechenden zum Greifen nah. Die Befragten berichten von den Objekten, die für sie für 'Heimat' stehen, und von den Orten Hamburgs, wo sie zu sich selbst kommen, ein Stück Sehnsucht Realität wird. Die Gesichter fließen ineinander ebenso wie sich die Erzählungen, so unterschiedlich sie sind, zum vielstimmigen Chor verdichten. Auf einer parallelen Leinwand sieht man den Musiker Antonio Cosenza aus Guatemala im Boot auf der Alster Gitarre spielen. Man sieht Yared Dibaba bei Sonnenaufgang am Ufer joggen. Man sieht den Sänger und Musiker Mokhtar aus Afghanistan an einem großen, starken Baum im Stadtpark sinnieren. Während Ge-Suk Yeo, Sängerin aus Korea, und die aus Mexiko stammende Tänzerin und Choreographin Yolanda Gutiérrez ihren Lieblingsplatz an der Elbe gefunden haben.

Ein Feld der Erinnerung bilden die auf Sockeln präsentierten Sehnsuchtsgegenstände der im Film Erzählenden: ein seidenes Nadelkissen, mit Haar gefüllt. Eine Handvoll würziger Kräuter, die in einem iranischen Reisgericht zur Anwendung kommen. Eine Mokkakanne, in der Kaffee nach einem besonderen, in Oromia üblichen Ritual gekocht wird. Ein Glas Wasser. Eine winzige Gitarre aus bemaltem Holz. Durch die Geschichten der Protagonisten erlebt man die Magie dieser Gegenstände, die - wie die berühmte Madeleine in Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" - eine "unwillkürliche Erinnerung" in Gang setzen. Glücksbringern oder Fetischen gleich, ist das bedeutsame Ding Stellvertreter und Vehikel von Bildern, Gefühlen und Ereignissen. Anders als in einer früheren Foto-Text-Arbeit von Jokinen, wo sich eine Kluft zwischen den Ansichten eines fremden Ortes und den damit verknüpften Beschreibungen auftut, sämtliche Codes "verrutschen', wird hier das 'Fremde' von den Betrachtern als etwas identifizierbar, das mit dem eigenen Erleben auf profunde Weise verbunden ist. Die "Sehnsuchtsformeln", die zu Gehör und zur Anschauung gebracht werden, lösen Wiedererkennen aus: Man fühlt, riecht, sieht das Beschriebene, als hätte man es selbst erlebt.

Die Großkatastrophen des 20. Jahrhunderts, meint der Sozialpsychologe Harald Welzer, Leiter der Forschungsgrupppe Erinnerung und Gedächtnis am kulturwissenschaftlichen Institut Essen, hätten nicht nur physische Zerstörung mit sich gebracht. Sondern eine Zerstörung von Traditionen des Erinnerns und gelebter Erinnerung. Bis hin zur Ausradierung der "Erinnerungsstützen", die sich räumlich manifestieren. Dies habe sich in den Erfahrungshorizont der Menschen ebenso wie in ihre kreativen Äußerungen eingeschrieben. Allerdings beobachtet er jetzt eine neue Tendenz: dass nämlich mittlerweile infolge der "völligen Internationalisierung und Globalisierung und der daraus resultierenden Angleichung von medial vermittelter Erfahrung tatsächlich weniger das Individuum und seine Erinnerung eine Rolle spielen als das, was wir miteinander teilen und als gemeinsame Basis für den Rückblick auf das Geschehene haben." Der globale Informationstransfer hat Wissenskreisläufe geschaffen, die sich über Grenzen, Zeiten, Orte hinweg setzen. Somit wird auch eine erweiterte Form der Erinnerung denkbar. Ein kulturelles Gedächtnis, das über den eigenen Horizont hinaus reicht.

Gemeinsam mit den Protagonisten der "Sehnsuchtsformeln" führt Jokinen in eindringlicher Verdichtung vor Augen, dass wir heute - mehr denn je - in ein kulturübergreifendes, narratives Netzwerk eingeflochten sind, in dem die Gemeinsamkeiten stetig zunehmen und die Besonderheiten des Einzelnen zu einer kollektiven geistigen Bereicherung beitragen. In ihrem fortlaufenden künstlerischen Forschungsprojekt um "Das Eigene und das Fremde" deutet sie auf eine denkbare Synthese des Gegensatzes, der jedem Menschen inhärent zu eigen ist, in einem anderen, erweiterten Seinszustand. Heimat kann ein Ort sein, an dem Fragen Nähe erzeugen. Oder, wie es Keyvan Taheris Sehnsucht entspricht, überflüssig werden. Eines Tages, hofft er, werde er nicht mehr gefragt, wo er herkommt, könne er das Wort 'Neu' vor der Bezeichnung 'Deutscher' streichen. Der Weg zur Überwindung von Grenzen führt über die Erfahrung des Eigenen im Fremden. Mehr noch, wie die Künstlerin in ihrer Arbeit vermittelt, über die Erkenntnis: Das Fremde ist das Eigene.

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