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Belgrader Flughafen Anfang Februar vor vielen Jahren. Vor meinem Flug nach Moskau habe ich eine Karte geschrieben und schaue um mich, wo ich eine Briefmarke kaufen könnte. 'Kann ich Ihnen behilflich sein?' fragt ein junger hochgewachsener Mann mit grauen Augen und russischer Pelzmütze. Zuerst habe ich seine Augen gesehen und dann erst die Frage gehört. 'Ja, wenn sie eine Briefmarke haben.' Er öffnet sein Portemonnaire und gibt mir eine Briefmarke, als ob es selbstverständlich wäre, daß jeder Briefmarken bei sich hat. Ich bedanke mich und gehe weiter bis zur Bar, um einen kleinen Cognac zu trinken und etwas Mut zu kriegen.

Im Flugzeug finde ich meinen Platz, und meine Reisetasche stelle ich unter dem Sitz. Ist es ein Zufall, daß gerade hinter mir der junge Mann sitzt, der mir die Briefmarke gegeben hat? Wir fliegen los. Meine Reisetasche kippt um, und alle Orangen und Zitronen, die ich bei mir trage in der festen Überzeugung, dass es solche in Moskau nicht gibt, rollen durch das Flugzeug. Es ist so komisch. Die Reisenden lachen. Der junge Mann, der hinter mir sitzt, steht auf und sammelt meine Südfrüchte. Es ist mir peinlich, ich bedanke mich.

In Warschau bleiben wir eine halbe Stunde. Wie alle Passagiere, gehe auch ich aus dem Flugzeug und warte. Er tritt zu mir und fragt höflich, was der Zweck meiner Reise nach Moskau ist. 'Spezialisieren, einen Monat lang in einem Institut', sagte ich. 'Sind sie Ingenieur?' 'Ja, Chemieingenieur - und Sie?' Er ist Maschineningenieur und Pilot auf dem Postdiplomstudium für Aeronautik bei Aeroflot in Moskau. Das Studium ist streng, er wohnt und lernt mit seinem Kollegen, der neben ihm im Flugzeug sitzt.

Wir fliegen weiter. Ich schaue auf die Karte von Moskau, und er fragt, ob jemand auf mich wartet . 'Ja, Kollegen aus meinem Institut werden warten - ich habe ein grosses Paket für sie.' 'Es ist nämlich nicht gewöhnlich, daß man alleine kommt, sondern immer in Gruppen', sagte er.

Moskauer Flughafen. Gründliche Durchsuchung meines Koffers durch den Zöllner. Aber niemand wartet auf mich. Was jetzt? Der junge Mann mit den grauen Augen ist wieder behilflich, sagt, ich solle mit dem Bus nach Moskau fahren, und er wird mir das Büro zeigen, wo sich jede fremde Person anmelden muss. Dort wird auch die Unterbringung verteilt. Mit dem Bus fahren wir in Richtung Moskau. Entlang der Strasse sieht man unzählige Birken mit wunderschönen weissen Stämmen.

Im kleinen bescheidenen Büro, wo wir mit dem Taxi angekommen sind, unfreundliche Information, daß ich diese Nacht in einem Hotel verbringen soll, weil erst morgen könne ich zu der für mich vorgesehene Unterkunft gehen. Jetzt begleitet er mich, und mit der Metro fahren wir bis zum Hotel: ein monumentales stalinistisches Gebäude. Hier muss man warten, und wir sitzen vor dem Hotel auf einer Bank. Es ist kalt, aber wir spüren es nicht. Was immer wir zu sprechen beginnen, finden wir Stoff für ein interessantes Gespräch. Auch über Poesie. Warum gerade D. Cesaric? Ungefähr so: 'Wer weiss, niemand, niemand weiss es, nichts.' Das Wissen ist zerbrechlich, vielleicht ist ein Strahl von Wahrheit in mich gefallen, oder sind das nur Träume?

Immer noch könnte uns die Liebe begegnen, begegnen, sage ich, aber ich weiss es nicht, ob ich sie wünsche oder nicht. Vielleicht wirst du einmal am Abend wunderschön in Blau erscheinen, ohne zu ahnen, 'dass du das Licht in meine längst vergangene Wirklichkeit gegossen hast.' Wir haben Angst, daß jemand uns ruft, um das Zimmer zu beziehen und unser Gespräch damit unterbricht.

Ukraina Hotel 1967

Das Gebäude. Als ob ein Kind zuerst unzählige Fenster gezeichnet hatte und dann die Rahmen dazu.

Das Zimmer. Sehr hoch. Ich kann das Licht nicht anmachen, weil der Schalter so hoch angebracht ist - und um sich in Spiegel zu sehen können, müsste ich mich mit einem Stuhl behelfen. Wir sitzen auf einem Sofa - es scheint so, dass es mir gelungen ist, auf sie zu klettern. Aber das alles ist nicht wichtig. Er strahlt unglaubliche Wärme aus trotz der Kälte der Architektur und der wirklichen Kälte. Etwas Wunderbares beginnt zu leben zwischen uns: eine tiefe beidseitige Sympathie und Neigung und Aufmerksamkeit, insbesondere von seiner Seite. Und ich habe die ganze Zeit - bewusst oder unbewusst - versucht, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Und noch mehr. Warum? Um diese kurze Begegnung am Flughafen, im Flugzeug, in Warschau und in Moskau etwas zu verlängern? Und ihm das Beste von mir zu schenken? Diesen Augenblick, unseren Augenblick wollte ich für immer versiegeln wegen seiner Zärtlichkeit und Güte - und wegen seinen Augen.

Wir haben lange gesprochen und lange geschwiegen, einer neben dem anderen, ruhig, fasziniert von der Nähe des Menschen, den Gott scheint geschickt zu haben. Alles war wie ein Gebet.

Unser erster Abend war ziemlich unbeholfen bei dem Versuch, sich näher zu kommen. Mit einer beidseitigen Selbstkontrolle fehlte es an Spontaneität, aber mit dem Charme, daß wir uns selbst bestimmte Grenzen aus Verehrung gestellt haben.

Am nächsten Tag haben wir uns wegen dem Paket am Hotel Ukraina getroffen. An diesem Tag habe ich mein Zimmer im Studentenhaus bezogen. Mit mir im Zimmer war eine Russin, eine sympathische junge Frau, die ein Postdiplomstudium in Mathematik machte. Im Hotel sind in langen Korridoren mit vielen Zimmern Waschtröge aufgestellt. Ich wusste lange nicht, daß diese Frau, mit der ich das Zimmer teilte, gerade die Person war, die mich in dieser schrecklichen politischen Diktatur kontrollierte.

Dieser Februar in Moskau, der kürzeste Monat, beginnt für uns noch kürzer zu sein wegen der Grippe, die ihn tagelang ans Bett fesselt. und wegen seinen Prüfungen. Die erste Woche im Institut war auch für mich nicht einfach, bis ich die russische Sprache, die ich in der Schule sieben Jahre lang gelernt hatte, wieder aktiviert habe.

Er schreibt mir einen ersten Brief, daß ich mich warm anziehen soll, der russische Winter sei hart - es war ja auch 26 Grad unter Null - und er verspricht, mir später Moskau zu zeigen und mit mir ins Theater zu gehen. Und wirklich: Termine sind schon fest, Billets reserviert.

Boljschoj Theater: eine märchenhafte Oper aus der Zarenzeit mit entsprechenden Kostümen, so etwas haben sich die Russen damals gerne angeschaut. Nach der Vorstellung stehen wir auf den Treppen des Theaters, es ist kalt, schrecklich kalt, keine Mut, uns näher zu kommen - warum sich nicht umarmen? Wir zittern vor Kälte und vor Aufregung. Ich denke, wir haben uns an diesem Abend verabschiedet mit ungestillter Sehnsucht nach Liebe.

Zigeunertheater: Vom Theaterstück habe ich nichts in Erinnerung, aber an seine Nähe und Wärme erinnere ich mich mit Sehnsucht.

Einmal im Kino - haben wir einen Kriegsfilm mit dem Thema Warten gesehen - warten auf jemanden, auch wenn er nicht kommt. Simonov hat ein wunderschönes Gedicht geschrieben : 'Zdi menja i ja vjernus toljko otschenj zdi '; 'warte auf mich und ich komme zurück, nur warte geduldig und sehr'. Hier in diesem Raum sitzen wir wie Sechzehnjährige - und wir sind doppelt so alt. Hand in Hand in einem Kino. Vielleicht, wenn wir in einem anderen Land wären, wären wir nicht - verrückt vor Sehnsucht - in dieser Nacht nach Hause gegangen.

Tretjakowgalerie: B. zeigt mir die berümtesten und schönsten Exponate russischer Kunst. Ich erinnere mich: vor einem Bild von Rubljov steht er hinter mir - ich spüre die Wärme und Glück, wirklich - Glück, weil ich neben ihm atme.

Kongresshaus im Kreml. Im riesengrossen Saal schauen wir uns einen der impressivsten Ballets, 'Schwanensee' von Cajkovski an, mit 40 Schwänen, wenn nicht mehr. Ein Wunder!

Auf dem Tisch im Zimmer sind jetzt die Orangen und Zitronen, die ich mitgebracht habe. I., die Frau, die mit mir das Zimmer teilt, fragt, warum ich sie mitgebracht habe, sie hätten doch ihre eigenen. Dabei habe ich die ganze Zeit keine einzige Orange gesehen. Etwas später bittet sie mich, die leeren Hairspraydosen und Shampooflaschen nicht wegzuwerfen! Aber sie ist eine liebe Frau. Nachdem sie B. kennenlernt, lädt sie uns zum Tee ein. Und das bedeutet sehr viel, wenn man weiss, daß es unterwegs keine Möglichkeit gibt, Tee zu trinken. Sie begleitet uns nie.

Die breiten Boulevards sind leer, keine Autos, keine Läden. Die Leute stehen stundenlang in Schlangen, obwohl sie nicht wissen, was sie kaufen können. Wenn es kein Brot gibt, dann vielleicht doch noch einen salzigen Fisch oder sie gehen wieder mit leeren Händen. Aber darüber redet man nicht. Im Gegenteil: überzeugt davon, daß sie im besten System leben, reden sie noch von der Oktoberrevolution.

1917! Wie könnte es anders sein, wenn das Radio nur ein Programm sendet über gute Arbeiter, Erfolge in Industrie und auf Kolchosen? Wenn man spazieren geht, muss man sich dieses Radioprogramm pausenlos hören, weil Mikrofone in regelmässigen Abständen an Laternen befestigt sind. Informationen aus dem Untergrund wecken bei einigen Kollegen die Sehnsucht nach Europa, aber solche zu empfangen war sehr gefährlich.

Eine Anekdote, die ich später immer erzählte, war bezeichnend für den Glauben an das Kollektiv und den Kommunismus: sich baden im Kollektiv. Einmal in der Woche. So gehe ich zum ersten Mal ins andere Gebäude. Die Frau im ersten Raum sagt, ich solle mich ausziehen und die Kleider auf der Bank liegen lassen und nackt in den nächsten Raum gehen. Ich weigere mich. 'Also, gehen sie, gehen sie, so schreiten wir alle in Kollektiv zum Kommunismus.' Im Raum sind viele Frauen, eine offene Dusche, und in der Mitte lange Tische mit Aluminiumwaschbecken und mit trockenem, pflanzlichem Etwas, womit man sich reibt. Und das tun alle.

An einem Abend lädt er mich in eines der besten Restaurants zum Abendessen ein: ins Aeroflot Restaurant. Es ist geräumig dort, schön und fast leer. Ich fühle mich festlich - endlich einmal allein mit ihm in einer warmen, angenehmen Ambiente und nicht auf der Strasse. Wir bestellen ein Menü mit mehreren Gängen, europäische und russische Spezialitäten, und beginnen über uns zu sprechen, über unsere Familien. Traurige Geschichten. Mein kleiner Sohn, dreieinhalb Jahre alt, hat eine Blutkranheit, Hämophilie. Mein Mann hatte lange Zeit starke Schmerzen, Koliken, das alles schlug sich nieder auch auf mich, und dann hat er noch eine schwere Operation hinter sich gebracht. Er ist im Ausland und ich bin mit meinem kleinem, schwerkranken Sohn und meiner Arbeit in Zagreb. Es ist nicht einfach, so zu leben. B. hört zu und kann nicht glauben, dass vieles mit seiner Geschichte übereinstimmt. Seine Frau hatte auch Schmerzen und schwierige Zeiten - sie stehen vor Scheidung und, wenn ich mich richtig erinnere, seine kleine Tochter war auch nicht ganz gesund. Jedenfalls ist er darüber traurig, was mit dem Kind wird. Alles, was wir besprechen, ist so ähnlich, und ich kann nicht begreifen, daß uns auch diese unglücklichen, intimen Geschichten verbinden. Sobald wir etwas sagen, öffnet sich eine neue Wunde, und neuer Schmerz entsteht. Zufälle? Wir beobachten uns, als ob wir wüssten, daß jemand zieht und verstrickt die Fäden unseres Schicksals.

Auf den Tellern bleibt alles unberührt stehen. Wir können nicht essen und entschuldigen uns beim Kellner - der nimmt ein Gericht nach dem anderen zurück. 'Wie könnte ich dir helfen?' Diese Frage wiederholt sich später in jedem Brief. Traurig sind wir und verwirrt. Er wird nie erfahren, dass mein Sohn später mit 30 Jahren wegen verseuchter Infusionen an Aids sterben wird.

Am Anfang unserer Bekanntschaft hat er mir einen Brief gegeben: unbekannte Sprache und Schrift auch. Und er sagte: 'Wir treffen uns wieder, wenn du diese Schrift entziffern kannst.' Wie wenn jemand sagt: 'Nie, wir werden uns nie wieder sehen'. Weil er es so will? Es bleibt nur die kurze Begegnung - aus politischen, familiären oder welchen Gründen auch immer. Lange habe ich diesen Brief behütet, und ihn in späteren Jahren nicht mehr gefunden. Habe ich den Brief in Erinnerung begraben, wissend, daß ich die Schrifft nie enträtseln könnte? Nach einem Jahr schreibt er: 'Du bist nicht eine kurze Begegnung, du bist meine Gegenwart und Ewigkeit.'

Am Abend vor meiner Abfahrt verabschieden wir uns auf der Strasse in der Nähe des Puschkin-Monuments und eines Kinderspielplatzes und schauen uns lange an bis wir beide aus dem Blickfang des Anderen verschwinden. Auseinandergerissen. Für immer?

Am nächsten Tag nehme ich den Zug zurück nach Zagreb. Zum Moskauer Bahnhof sind S. und die anderen aus dem Institut gekommen und bringen Geschenke und Spielzeug für meinen Sohn und für mich sogar einen Samowar. Da ist auch meine Zimmergenossin I. In den Zug steige ich ohne Mantel ein, den lasse ich wie auch viele andere Sachen als Geschenk zurück. Jetzt beim Abschied haben sich S. und I. kennengelernt und sind für die nächsten 20 Jahre zusammen geblieben. Und Freunde sind wir noch immer.

Briefe und Karten kommen von B. in kleineren oder grösseren Abständen: warme, freundschaftliche, nostalgische, bis ich mich entscheide, mit meinem Sohn, der bald in die Schule geht, in die Schweiz zu seinem Vater und meinem Mann zu übersiedeln.

Später habe ich erfahren, daß B. mich einmal in meiner Strasse in Zagreb gesucht hatte, aber ich war gerade weggefahren. Drei Jahre nach unserem Abschied in Moskau war ich im Sommer mit meiner Familie in Zadar in Hotel Borik, einen Monat, bevor mein zweiter Sohn geboren wurde. Ich hatte B. nichts darüber geschrieben, wo und wann wir in die Ferien gehen. Desto erstaunter war ich, als ich erfuhr, daß er nur einige Tage später am gleichen Ort gewesen war. Zeitlich so nah, und wir sind uns trotzdem nicht begegnet. Wir haben uns nie wiedergesehen. Wenn ich weisse Flugzeugspuren am blauen Himmel sehe, kommt die Sehnsucht und der Gedanke, dass er vielleicht dort oben fliegt, aber dann verschwinden die Spuren wieder. Ich spürte keine Schuldgefühle wegen den Briefen, die immer rarer kamen zur Adresse meiner Schulkollegin. Eines Tages kamenwegen der strengen Zensur keine mehr. Sie waren doch gegen niemand, diese Briefe waren wie Balsam: eine andere, zärtliche, subtile Seite, die ich brauchte!

Es war Sonntag - während eines Versuchs, mit dem Rauchen aufzuhören, sucht mein Mann überall nach Zigaretten, so auch nach möglichen Werbezigaretten in meinen Handtaschen Und findet Briefe aus Moskau. Es sind insgesamt sechs oder sieben Briefe und Karten. Eine katastrophale Wende tritt ein in unsere Beziehung. All die Jahre unserer gemeinsamen Lebens - teils voneinander getrennt: er im Ausland, ich in Zagreb - hat er an mich geglaubt. Über Nacht ist er jetzt ein anderer Mensch geworden: verletzt, entäuscht, er glaubt mir nichts mehr. Erst jetzt entdeckt er meine persönlichen Werte oder eben Nichtwerte. Er sucht den Mann aus Moskau in ganz Europa, ohne Erfolg. Und dann zwingt er mich, von ihm meine Briefe zurück zu verlangen. Ich schreibe an die frühere Adresse, eine Antwort kommt aber nie.

Jahre und Jahre des Schweigens vergehen, Diktatoren wechseln, bis nach Hruschtschov und dem Fall von Berliner Mauer 1989 Gorbatschov an die Macht kam und damit ein neuer Abschnitt in der Geschichte. Wenn ich dann wieder in Moskau zum Besuch bei I. und S. war, versuchte ich zu erfahren, wo B. lebt oder ob er überhaupt noch lebt. Ohne Erfolg. Ich wusste zwar, wo er geboren wurde und auch einiges über seine Familie, doch habe ich ihn dort vor Ort dann doch nie gesucht.

Die Briefe haben bei meinem Mann eine offene Wunde hinterlassen, was sehr auf unser Zusammenleben gewirkt hat. Aber meine Sehnsucht nach und Erinnerung an die Schönheit, Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit dieser wirklich kurzen Begegnung ist nie verschwunden. Damals war ich mir der Tatsache nicht bewusst, dass ich mich immer an diese Begegnung erinnern werde. Jetzt weiss ich es, weil die Zeit bis zum Lebensende immer kürzer wird. Habe ich gewusst, daß ich ihn nie mehr sehen werde? Oder war es eine Angst, etwas aus diesem so kostbaren, zarten, zerbrechlichen Gewebe, das wir in unsere Geschichte hineingewoben haben, zu verlieren? Die Geschichte wird weiter irgendwo schweben wie ein feines Spinnennetz unserer Sehnsucht im Himmel, wenn es uns auch nicht mehr gibt.

Es war, als ob wir uns versprochen hätten, aufeinander zu warten, trotz aller Hoffnungslosigkeit - wie in den Simonov-Gedichten. Oder waren wir uns bewusst, dass wir umsonst warten, aber trotzdem nicht das Warten aufgeben wollten?

 

Heimat

Ich weiss, daß im Wurzel dieses Wortes 'Heim' steht. Darunter versteht man in vielen Fällen das Haus, wo du vielleicht geboren wurdest, deine Kindheit verbracht hast, mit deiner Mutter und deinen Vater gelebt, mit Geschwistern gestritten, deine Schulaufgaben gemacht, Elternliebe erfahren, Wärme und Geborgenheit gefühlt, schmerzliche Trennung von Zuhause erlebt, schöne Erinnerungen in die Welt mitgenommen hast - oder eben nicht...

Und trotzdem: ich mag dieses Wort nicht. Heimat ist ein breiterer Begriff, nicht nur Heim allein. Als territoriale Einheit steht es für ein ganzes Volk oder für Völker. Und Heimat muss man verteidigen gegen Feinde, wirkliche oder fantasierte. Und damit kommt eine Reihe von Begriffen daher wie: Patriotismus, Politik, Mobilisation, Befreiung, Kampf, Krieg, Rache, Verlust, Gewalt, Tod.

Heimat kann auch an Berge oder Seen oder Meer oder Wälder erinnern, oder auch an Sprache, Gewohnheiten, Klima. Heimat kann leider auch schwere Wunden und Narben hinterlassen,. Deswegen mag ich dieses Wort nicht.

Einmal habe ich gesagt, dass ich zwei Heimaten habe. Es ist ein Vorteil: die erste, wo ich geboren wurde und die zweite, wo ich jetzt lebe. Also kann ich mich zweimal freuen: wenn ich in das Land reise, wo ich geboren bin und wenn ich in das Land zurückkomme, wo ich lebe. In meinem Leben ist es insofern besonders, daß ich im ersten Land einen Beruf ausgeübt und meinen ersten Sohn geboren habe, im zweiten Land einen zweiten Beruf ausgeübt und meinen zweiten Sohn zur Welt gebracht habe. Ein Leben ist die Summe von mehreren wichtigen Lebensabschnitten, egal ob in der alten oder neuen Heimat, hauptsächlich in der Welt.

D.J.J.___März 2004

'Geborgenheit'